„Eine erweiterte EU muss eine reformierte EU sein!“

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Interview des Bundeskanzlers mit der „Corriere della Sera“ „Eine erweiterte EU muss eine reformierte EU sein!“

„Natürlich gibt es Herausforderungen, auf die wir aus unterschiedlichen Sichtweisen blicken. Wir werden sicherlich auch darüber sprechen, wie wir unsere Beziehungen noch weiter vertiefen können“, betont Bundeskanzler Olaf Scholz im Interview mit der italienischen Zeitung „Corriere della Sera“. Darin äußert er sich auch zur Wettbewerbsfähigkeit der EU, zur Migration, zur Unterstützung der Ukraine – und erklärt, wie sich das Verhältnis Europas zu China entwickeln sollte.

  • Interview mit Bundeskanzler Olaf Scholz
  • Corriere della Sera
Portraitbild Bundeskanzler Scholz

Bundeskanzler Olaf Scholz

Foto: photothek.net/Köhler & Imo

Herr Bundeskanzler, nach dem Ende der Regierung von Mario Draghi haben die italienischen Wähler eine Mitte-Rechts-Koalition unter der Führung von Giorgia Meloni gewählt. Nach der engen Zusammenarbeit mit Draghi und der Übereinstimmung der Ansichten zwischen Ihnen beiden, auf einem Höhepunkt zu erleben während Ihres Besuchs zu dritt mit Emmanuel Macron in Kiew, hat man nun den Eindruck, dass es zu einer Abkühlung der Beziehungen zwischen Rom und Berlin gekommen ist. Wie schätzen Sie den aktuellen Zustand der bilateralen Beziehungen ein? Kann dieser Besuch als Wiederaufnahme des Dialogs angesehen werden?

Scholz: Die Beziehungen zwischen Deutschland und Italien sind eng, vertrauensvoll und sehr belastbar – das gilt nicht nur für unsere Länder und unsere Gesellschaften, sondern auch für die Kooperation mit der italienischen Regierung. Nach dem Antrittsbesuch von Ministerpräsidentin Meloni vor wenigen Monaten in Berlin reise ich diese Woche nach Rom zu politischen Gesprächen mit ihr und mit Staatspräsident Matarella. Auf Ebene der Europäischen Union, im Nato- und im G7-Rahmen arbeiten wir gut zusammen.

Eines der Themen, bei welchem Deutschland und Italien sich nicht im Einklang befinden, ist die Industriepolitik. Deutschland ist aktuell das EU-Land, welches dem Hochtechnologiesektor, wie dem Halbleitersektor und der Grünen Technologie, viele Staatshilfen zugutekommen lässt. Wie durchhaltbar ist ein gemeinsames Europa, in dem jedes Land finanzielle Investitionen nach eigenem Ermessen betreibt?

Scholz: Nach meiner Beobachtung bewegt sich die Bundesregierung mit ihren Entscheidungen im Rahmen dessen, was auch andere EU-Staaten für die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Industrie tun. Gemeinsam geht es uns doch darum, die Wirtschaft in unseren Ländern zukunftsfähig zu machen unter den Bedingungen der Klimaneutralität und der Digitalisierung. Dieser große Umbau unserer Industrie benötigt eine Kraftanstrengung aller Akteure, auch des Staates. Damit sorgen wir dafür, dass die EU wettbewerbsfähig bleibt. Wir sind uns einig, dass wir das europäische Beihilferecht noch agiler und zeitlich befristet auch flexibler machen müssen, damit Investoren frühzeitig wissen, mit welcher Unterstützung sie rechnen können. Wir müssen auch die Rahmenbedingungen für Investitionen in Europa insgesamt stärken. Wir brauchen etwa beschleunigte Verwaltungs- und Genehmigungsverfahren, wenn es zum Beispiel um Produktionskapazitäten für Schlüsseltechnologien für die Transformation geht. Die EU-Kommissionspräsidentin hat dazu wichtige Vorschläge gemacht, die in die richtige Richtung gehen. Es geht darum, dass sich alle Länder in Europa diesen Herausforderungen stellen und vom künftigen Wachstum profitieren können.

Bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts hat Ihr Finanzminister sich ablehnend gegenüber dem Vorschlag der Europäischen Kommission geäußert, der sich für einen differenzierten Schuldenabbaupfad ausspricht. Deutschland, aber besteht weiterhin auf strengen und identischen Bilanzregeln für alle?

Scholz: Die Bundesregierung hat bereits frühzeitig konstruktive Vorschläge eingebracht und sehr differenziert auf die Überlegungen der EU-Kommission reagiert. Wichtig ist: Die Bürgerinnen und Bürger müssen die Gewissheit haben, dass ihr Staat auch in Krisenzeiten handlungsfähig und solidarisch bleibt. Dafür braucht es fiskalische Stabilität, klare Regeln, die eingehalten werden, und einen gemeinsamen, transparenten Rahmen. Dabei geht es ausdrücklich nicht darum, einzelne Mitgliedstaaten in eine Austeritätskrise zu führen, deshalb habe ich noch als Bundesminister der Finanzen den Wiederaufbaufonds mit vorgeschlagen, damit ganz Europa gut durch die Krise kommt. Nun geht es in den gemeinsamen Gesprächen mit den EU-Partnern darum sicherzustellen, dass Wachstum, Schuldentragfähigkeit und Investitionen gewährleistet werden, damit die Transformation unserer Volkswirtschaften gelingt.

Auch beim Thema der Migration gibt es Meinungsverschiedenheiten zwischen Deutschland und Italien. Speziell beim deutschen Vorschlag, Hotspots an den EU-Außengrenzen, zum Beispiel in Griechenland und in Italien, einzurichten, um die Einreise der Migranten schon dort zu verwalten, verhält sich Rom ablehnend. Wie wollen Sie Giorgia Meloni für dieses Thema erwärmen? Sehen Sie Übereinstimmungen und wie sehen diese aus?

Scholz: Erstmal vorweg: Italien, Griechenland und andere Mittelmeeranrainer stehen vor einer großen Herausforderung, weil die Zahl von Geflüchteten steigt, die bei ihnen ankommen. Und damit dürfen wir Italien und die anderen nicht allein lassen, sondern verfolgen einen Ansatz von Solidarität und Verantwortung. Deutschland seinerseits ist in besonderem Maße von Sekundärmigration betroffen – im vergangenen Jahr sind nicht nur mehr als eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer nach Deutschland geflüchtet, sondern auch 230.000 Flüchtlinge aus anderen Staaten sind bei uns angekommen, obwohl wir keine EU-Außengrenze haben.

Deshalb: Wir brauchen eine solidarische Verteilung von Verantwortung und Zuständigkeit zwischen den EU-Staaten sowie die Einhaltung der Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren und bei der Integration in den EU-Staaten. Meine Regierung setzt sich mit Nachdruck für eine grundlegende Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) ein: Dafür sind aus unserer Sicht auf EU-Ebene weitere Anstrengungen erforderlich, um die Kontrolle und den Schutz der EU-Außengrenzen wirksamer auszugestalten – human und in Einklang mit geltendem Recht. Über die genaue Ausgestaltung der Vorschläge wird im Augenblick intensiv in Brüssel diskutiert und auch Deutschland bringt sich in diese Diskussion ein. Zudem schlagen wir vor, mit Herkunfts- und Transitländern zusammenzuarbeiten, um irreguläre Ankünfte nachhaltig zu verringern und stattdessen legale Zugangswege zu ermöglichen. Dies steht nicht im Widerspruch zur Position Italiens.

Deutschland hat mit neun anderen Staaten, unter anderem Italien, „den Club der Freunde“ initiiert, um die Mehrheitswahl für Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik in der EU durchzusetzen. Der italienische Außenminister bremst inzwischen die Initiative, der er keine Priorität mehr einräumt. Glauben Sie, dass man sofort weiter voranschreiten könnte?

Scholz: Die Europäische Union kennt qualifizierte Mehrheiten bereits in den allermeisten Politikbereichen. Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, dass Europa – gerade auch mit Blick auf eine Erweiterung – vor allem nach außen, aber auch nach innen handlungsfähiger werden muss, auch durch effizientere Entscheidungsmechanismen. Eine erweiterte EU muss eine reformierte EU sein! Insbesondere brauchen wir mehr Ratsentscheidungen mit qualifizierter Mehrheit in der Außenpolitik und bei Steuern. Dafür werde ich weiter Überzeugungsarbeit leisten! Nicht die Einstimmigkeit, nicht 100 Prozent Zustimmung zu allen Entscheidungen schafft größtmögliche demokratische Legitimität. Im Gegenteil!  Es ist doch gerade das Werben und Ringen um Mehrheiten und Allianzen, das uns als Demokratinnen und Demokraten auszeichnet. Die Suche nach Kompromissen, die auch den Interessen der Minderheit gerecht werden. Genau das entspricht unserem Verständnis von liberaler Demokratie!

In diesen Wochen wird viel über eine zukünftige Allianz zwischen der EVP und den konservativen Parteien der EKR gesprochen, die die Mehrheit der EVP, Sozialisten und Liberalen ersetzen sollte, die Ursula von der Leyen bisher die Präsidentschaft der Europäischen Kommission gebracht hat. Ist das Ihrer Meinung nach eine glaubwürdige Perspektive? Stünde die deutsche Regierung einer Wiederbestätigung Ursula von der Leyens positiv gegenüber?

Scholz: Die Bundesregierung arbeitet gut mit der EU-Kommission zusammen, so war es in der Vergangenheit und so wird es auch in Zukunft sein. Zur Frage von parteipolitischen Allianzen im Europäischen Parlament möchte ich mich, bitte sehen Sie es mir nach, hier nicht äußern.

Wie lange, befürchten Sie, wird sich der Konflikt in der Ukraine noch fortsetzen? Ist es notwendig, einen Weg des Dialogs zu gehen? Welche Rolle könnte China spielen?

Scholz: Wir wissen nicht, wann dieser Krieg vorbei sein wird. Aber eines ist klar: Präsident Putin hat es in der Hand, ihn sofort zu beenden, indem er die Kampfhandlungen einstellt und Truppen zurückzieht. Daran könnten sich Gespräche über einen fairen Frieden zwischen der Ukraine und Russland anschließen, wie es die Ukraine seit langem vorschlägt. Doch Russland hält an seinen imperialistischen Maximalforderungen fest. Wir müssen uns also darauf einstellen, dass wir der Ukraine noch lange helfen müssen. Und wir werden die Ukraine dabei unterstützen, einen gerechten und dauerhaften Frieden zu erreichen. Dazu stehen wir im intensiven Austausch mit der Ukraine und mit vielen anderen Ländern weltweit.

Welche Sicherheitsgarantien könnte man und müsste man Kiew für die Nachkriegszeit geben? Sind Sie einverstanden mit der Position Henry Kissingers, der den baldmöglichsten Eintritt der Ukraine in die Nato für den richtigen Weg hält? Welche Meinung vertritt die deutsche Regierung gegenüber einem Beitritt der Ukraine in die Europäische Union? Wird es noch Platz für Russland in der zukünftigen Sicherheitsarchitektur Europas geben?

Scholz: Jetzt geht es erst einmal um die Frage, die Ukraine nach Kräften dabei zu helfen, sich verteidigen zu können. Ein fairer Frieden und endlich ein Ende dieses schrecklichen Krieges mit so viel Leid und Zerstörung zu erreichen, ist dabei das vordringliche Ziel. Klar ist, dass die Ukraine in einer Nachkriegszeit konkrete und verlässliche Zusagen benötigen von Partnern und Verbündeten, um ihre eigene Sicherheit zu erhöhen. Darüber sprechen wir bereits seit längerem mit der Ukraine und unseren engsten Partnern. Die Ukraine gehört zur europäischen Familie! Wir sind entschlossen, das Land auf seinem Weg in die EU zu unterstützen. Allen ist klar, dass ein EU-Beitritt erst nach Erfüllung aller Beitrittskriterien erfolgen kann. Und auch die EU muss ihre Hausaufgaben machen, um neue Mitglieder aufnehmen zu können.

Die Beziehungen zu China befinden sich im Zentrum der Debatten in Europa und dem Abendland. Müssen wir eine härtere Haltung gegenüber Peking an den Tag legen? Wie sollte diese aussehen? Was halten sie von der Idee, dass Firmen, die ein Investment in Peking vornehmen möchten, dieses melden müssten, so dass es gegebenenfalls von dem zuständigen Staat blockiert werden könnte?

Scholz: Wir haben uns innerhalb der EU – zuletzt auch im Rahmen der G7 – ganz klar darauf verständigt, dass es uns um einen Abbau von Risiken aus einseitigen Abhängigkeiten geht. Es wird also auch im Verhältnis zu China kein Decoupling, also eine Entkopplung der Wirtschaftsräume, geben. Ganz im Gegenteil: Es ist im Interesse von uns allen, dass auch die Wirtschaft in China weiter wachsen und der ökonomische Wohlstand der Menschen dort eine positive Entwicklung nehmen kann. Das betrifft natürlich vor allem und ganz besonders den – immer noch sehr großen – ärmeren Teil der chinesischen Landbevölkerung. Eines ist mir dabei jedoch sehr wichtig: Wir müssen verstärkt darauf achten, dass sich unsere Beziehungen im Rahmen der globalen Weltordnung abspielen und zwischen allen Staaten Einigkeit darüber besteht, sich an die internationalen Regeln zu halten. Nur so können wir eine Politik gewährleisten, die auf internationaler Ebene zu mehr wirtschaftlicher Widerstandsfähigkeit und Sicherheit führt. Konkret geht es darum sicherzustellen, dass bei Investitionen auf globaler Ebene gleiche Wettbewerbsbedingungen herrschen – für europäische, amerikanische und andere weltweit operierende Unternehmen in China wie auch für chinesische Firmen, die in unseren Ländern aktiv sind. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass wir unsere ökonomischen Strukturen möglichst rasch diversifizieren, damit wir gerade bei Lieferketten, Exporten und Direktinvestitionen unsere Abhängigkeiten verringern. Das betrifft insbesondere kritische Güter wie kritische Mineralien, Halbleiter und Batterien. Ausklammern sollten wir China aus dem Welthandel aus meiner Sicht nicht!